17
Die Flasche Rum
Vielleicht wäre es übertrieben, zu behaupten, daß bei vielen Verhören herzliche Beziehungen zwischen der Polizei und demjenigen entstehen, den sie zu einem Geständnis bringen soll. Aber fast immer stellt sich, sofern es sich nicht gerade um einen üblen und brutalen Menschen handelt, eine gewisse Vertrautheit ein. Das hängt sicher damit zusammen, daß sich Polizist und Täter über Wochen, manchmal Monate miteinander beschäftigen.
Der Untersuchungsbeamte versucht mit allen Kräften, tiefer in das Vorleben des Schuldigen einzudringen, seine Überlegungen nachzuvollziehen und selbst seine geringsten Reaktionen vorherzusehen.
Beide setzen bei dieser Partie ihre Haut aufs Spiel. Und wenn sie dann aufeinandertreffen, sind die Umstände dramatisch genug, um die höfliche Gleichgültigkeit aufzugeben, die im alltäglichen Leben die Beziehungen zwischen den Menschen beherrscht.
Es hat Inspektoren gegeben, die zu einem Verbrecher Zuneigung faßten, nachdem sie ihn unter großen Mühen festgenommen hatten, ihn im Gefängnis besuchten und ihm bis zu seiner Hinrichtung moralischen Beistand gewährten.
Das erklärt zu einem Teil das Verhalten der beiden Männer, während sie allein im Zimmer waren. Der Hotelier hatte einen Holzkohlengrill gebracht, und in einem Kessel summte das Wasser. Daneben stand zwischen zwei Gläsern und einer Zuckerdose eine große Flasche Rum.
Sie froren beide. In ihre geliehenen Morgenmäntel gehüllt, beugten sie sich über das Kochgerät, das jedoch zu klein war, um sie aufzuwärmen.
Sie hatten alles Wachsame, Kasernenhafte aufgegeben und legten jene Lässigkeit an den Tag, die es nur zwischen Menschen gibt, für die soziale Gegebenheiten gegenwärtig nicht zählen.
Vielleicht einfach, weil ihnen kalt war? Wahrscheinlich aber, weil sie beide gleich erschöpft waren.
Es war vorbei! Sie brauchten nicht darüber zu sprechen, um es zu empfinden!
Also ließen sie sich jeder auf einen Stuhl fallen, streckten ihre Hände nach dem Wasserkessel aus und blickten versonnen auf den blauen Emailgrill, der ihnen als Verbindungsglied diente.
Es war der Lette, der die Rumflasche nahm und mit sicheren Handgriffen die Grogs vorbereitete.
Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, fragte Maigret: »Wollten Sie sie töten?«
Die Antwort kam sofort, mit der gleichen Schlichtheit: »Ich habe es nicht gekonnt.«
Doch das ganze Gesicht des Mannes war verzerrt, von Zuckungen heimgesucht, die ihn nicht mehr losließen.
Bald flackerten die Augenlider, bald verzogen sich die Lippen zur einen oder anderen Seite, bald zuckten die Nasenflügel zusammen.
Das eigenwillige und intelligente Gesicht Pietrs verschwamm. Der Russe kam dahinter zum Vorschein, der Landstreicher mit den überspannten Nerven, auf dessen Gebärden Maigret nicht achtete.
So hatte er nicht bemerkt, daß die Hand seines Gegenübers zu der Rumflasche griff. Das Glas wurde vollgeschenkt und in einem Zug geleert, während die Augen zu glänzen begannen.
»Pietr war ihr Mann? … Olaf Swaan und er waren ein und dieselbe Person nicht wahr?«
Der Lette erhob sich, unfähig, stillzusitzen, suchte um sich herum nach Zigaretten, fand keine und schien darunter zu leiden. Als er an dem Tisch vorbeikam, auf dem der Grill stand, schenkte er sich noch mehr Rum ein.
»Das ist nicht der Anfang von der Geschichte!« sagte er.
Dann sah er den Kommissar an und fügte hinzu:
»Im Grunde wissen Sie alles oder fast alles, wie?«
»Die beiden Brüder aus Pleskau … Zwillinge, nehme ich an. Sie sind Hans, der den anderen mit Bewunderung und Ergebenheit betrachtete …«
»Als wir noch ganz klein waren, hat es ihm schon Spaß gemacht, mich als Lakai zu behandeln … Und zwar nicht nur, wenn wir allein waren, sondern auch vor unseren Kameraden … Er sagte nicht Lakai, er sagte Sklave … Er hatte gemerkt, daß mir das gefiel … Denn es hat mir gefallen, ich weiß heute noch nicht, warum … Ich sah alles nur durch ihn … Ich hätte für ihn sterben wollen … Als ich später …«
»Wann später?«
Zuckungen. Flackernde Lider. Ein Schluck Rum.
Schulterzucken, als wollte er sagen: »Nach alledem …«
Und mit verhaltener Stimme:
»Als ich später eine Frau geliebt habe, war ich wahrscheinlich kaum zu größerer Ergebenheit fähig … Eher weniger … Ich liebte Pietr wie … ich weiß es nicht! … Ich schlug mich mit den Kameraden, die seine Überlegenheit nicht anerkennen wollten, und da ich der Schwächste war, empfing ich diese Prügel mit einer Art Jubel.«
»Diese Unterdrückung kommt bei Zwillingen häufig vor«, bemerkte Maigret, während er sich einen zweiten Grog zubereitete. »Gestatten Sie einen Augenblick?«
Er ging zur Tür und rief Léon zu, ihm seine Pfeife und Tabak heraufzubringen, die in seiner Jacke geblieben waren. Der Lette unterbrach ihn:
»Und bitte, Zigaretten für mich!«
»Und Zigaretten … Gauloises!«
Er nahm wieder Platz. Schweigend warteten sie, bis das Mädchen die Dinge gebracht und sich zurückgezogen hatte.
»Sie waren zusammen auf der Universität in Dorpat …«, nahm Maigret den Faden wieder auf.
Der andere konnte sich weder setzen noch auf einem Fleck stehenbleiben. Er rauchte und kaute dabei an seiner Zigarette, spuckte Tabakkrümel aus, wanderte mit ungleichmäßigen Schritten herum, nahm eine Vase vom Kamin, stellte sie woanders hin und sprach mit wachsender Erregung.
»Ja, da hat es begonnen! Mein Bruder war der beste Student. Alle Professoren gaben sich mit ihm ab. Die Kommilitonen erlagen seiner Ausstrahlung. So daß er zum Präsidenten der Korporation Ugala gewählt wurde, obwohl er einer der Jüngsten war.
Wir tranken viel Bier in den Schenken. Besonders ich! Ich weiß nicht, warum ich mit dem Trinken so früh angefangen habe. Ich hatte keinen Grund. Mit einem Wort, ich habe immer getrunken. Ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil ich mir nach ein paar Gläsern eine Welt nach meiner Vorstellung bildete, in der ich eine großartige Rolle spielte …
Pietr war sehr hart gegen mich. Er behandelte mich wie einen ›dreckigen Russen‹. Sie können das nicht verstehen. Unsere Großmutter mütterlicherseits war Russin. Und bei uns galten die Russen, vor allem nach dem Krieg, als Faulenzer, Trunkenbolde und Träumer.
Damals kam es zu Aufständen, die von den Kommunisten geschürt wurden. Mein Bruder hat sich an die Spitze der Korporation Ugala gesetzt. Sie haben sich in einer Kaserne Waffen geholt und den Kampf mitten in die Stadt getragen.
Ich hatte Angst … Ich konnte nichts dafür … Ich hatte Angst … Ich konnte nicht marschieren … Ich bin in einer Kneipe geblieben, deren Läden heruntergelassen waren, und hab die ganze Zeit über getrunken …
Ich glaubte, ich sei dazu bestimmt, ein großer Dramatiker zu werden, wie Tschechow, dessen Werke ich auswendig kannte. Pietr lachte darüber.
›Du … Du wirst immer ein Versager bleiben!‹ behauptete er. Es folgte ein Jahr voller Unruhen, Aufstände, das Leben war nicht mehr im Gleichgewicht. Die Armee schaffte es nicht, die Ordnung aufrechtzuerhalten, die Einwohner bildeten eine Art Bürgerwehr, um die Stadt zu verteidigen.
Mein Bruder, der Führer seiner Korporation, wurde zu einer Persönlichkeit, die die bedeutendsten Leute ernst nahmen. Er hatte noch keinen Bart, als man von ihm bereits als dem künftigen Staatsmann des befreiten Estland sprach.
Aber die Ordnung wurde wieder hergestellt, und ein Skandal kam ans Licht, der vertuscht werden sollte. Als man die Bücher überprüfte, wurde klar, daß sich Pietr der Ugala vor allem zu seiner persönlichen Bereicherung bedient hatte.
Als Mitglied mehrerer Komitees hatte er sämtliche Unterschriften gefälscht.
Er hat das Land verlassen müssen. Er ist nach Berlin gegangen, von dort schrieb er mir, ich solle zu ihm kommen. In Berlin hat dann unsere gemeinsame Laufbahn begonnen.«
Maigret beobachtete das äußerst erregte Gesicht des Letten.
»Wer hat die Fälschungen gemacht?«
»Pietr hat mir beigebracht, jede beliebige Handschrift zu imitieren, er ließ mich an einem Chemiekurs teilnehmen … Ich wohnte in einer schmalen Kammer, und er gab mir zweihundert Mark im Monat … Ein paar Wochen später kaufte er sich ein Auto, um seine Geliebte spazierenzufahren.
Wir fälschten vor allem Schecks … Aus einem Scheck über zehn Mark fabrizierte ich einen über zehntausend Mark, den Pietr in der Schweiz, in Holland und einmal sogar in Spanien einlöste …
Ich trank viel. Er verachtete mich und behandelte mich schlecht.
Eines Tages ist er beinahe hochgegangen, weil mir eine Unterschrift nicht so gut gelungen war wie sonst. Es war wirklich keine Absicht.
Er hat mich mit dem Stock geschlagen …
Und ich habe nichts gesagt! Ich bewunderte ihn noch immer … Ich weiß nicht, warum … Übrigens hat er auf jeden Eindruck gemacht … Einmal hätte er, wenn er gewollt hätte, die Tochter eines Reichsministers heiraten können.
Nach dem mißratenen Scheck mußten wir nach Frankreich gehen, wo ich zuerst in der Rue de l’Ecole de Medicine gewohnt habe …
Pietr arbeitete nicht mehr alleine … Er hatte sich mit mehreren internationalen Banden zusammengetan … Er reiste viel ins Ausland und bediente sich meiner immer weniger … Nur manchmal für Fälschungen, denn ich war in diesen Dingen sehr geschickt geworden …
Er gab mir ein bißchen Geld.
›Du taugst nur zum Trinken, dreckiger Russe!‹ wiederholte er.
Eines Tages teilte er mir mit, daß er wegen eines Riesengeschäfts, das ihn zum Milliardär machen würde, nach Amerika müsse. Er befahl mir, aufs Land zu ziehen, weil mich die Ausländerpolizei in Paris schon öfter vernommen hatte.
›Ich verlange nichts weiter von dir, als daß du dich still verhältst! … Das ist doch wohl nicht zuviel, wie?‹
Gleichzeitig gab er eine ganze Serie von falschen Pässen bei mir in Auftrag, die ich ihm auch geliefert habe.
Ich kam nach Le Havre …«
»Dort sind Sie derjenigen begegnet, die später Frau Swaan geworden ist …«
»Sie hieß Berthe …«
Schweigen. Der Adamsapfel des Letten trat hervor.
Dann brach er los:
»Da habe ich auf einmal etwas Ordentliches werden wollen! … Sie hatte in dem Hotel, in dem ich wohnte, die Kasse unter sich … Sie sah mich jeden Tag betrunken nach Hause kommen … Und sie schimpfte mich aus …
Sie war sehr jung, aber ernsthaft. Sie erweckte in mir den Gedanken an ein Heim, an Kinder …
Eines Abends, als ich nicht völlig betrunken war, hielt sie mir eine Standpauke, und da habe ich in ihren Armen geweint und ihr, glaube ich, geschworen, ein anderer Mensch zu werden.
Ich hätte auch sicherlich Wort gehalten. Mich widerte alles an. Ich hatte es satt, herumzulungern!
Das dauerte etwa einen Monat … Sehen Sie, das ist verrückt! … Sonntags besuchten wir gemeinsam die öffentlichen Konzerte … Es war Herbst … Wir kamen am Hafen entlang, wo wir die Schiffe betrachteten …
Wir sprachen nicht von Liebe … Sie sagte, sie sei meine Freundin … Aber ich wußte genau, eines Tages …
Ach ja! Eines Tages ist mein Bruder zurückgekehrt … Er brauchte mich dringend … Er brachte eine ganze Mappe voller Schecks, die gefälscht werden mußten … Wenn man sich vorstellte, wo er sie herhatte! … Sie waren auf alle großen Banken der Welt ausgestellt …
Aus diesen Gründen war er Marineoffizier geworden und nannte sich Olaf Swaan …
Er stieg in meinem Hotel ab … Während ich wochenlang – denn das ist eine knifflige Arbeit – Schecks fälschte, suchte er die Häfen an der Küste ab, um Schiffe zu kaufen …
Denn sein neues Geschäft ging gut. Er hatte mir erklärt, daß er sich mit einem der bedeutendsten amerikanischen Bankiers zusammengetan habe, dessen Rolle in der ganzen Sache natürlich im dunkeln blieb.
Es ging darum, alle großen internationalen Banden in einer Hand zu vereinigen.
Die Zustimmung der Alkoholschmuggler lag bereits vor. Man brauchte kleinere Schiffe für die Transporte …
Ist es der Mühe wert, Ihnen den Rest zu erzählen? Pietr hatte mich vom Trinken abgehalten, um mich zur Arbeit zu zwingen … Ich lebte in meinem Zimmer eingeschlossen, mit Uhrmacherlupen, Säuren, Federn, Tuschen aller Art und sogar mit einer kleinen Handdruckerei …
Eines Tages trat ich unvermittelt ins Zimmer meines Bruders. Berthe lag in seinen Armen …«
Er griff aufgebracht nach der Flasche, deren Boden nur noch gerade bedeckt war, und trank sie leer.
»Ich bin abgehauen!« schloß er mit merkwürdiger Stimme. »Ich hätte nichts anderes tun können. Ich bin weggelaufen. Ich habe mich in einen Zug gesetzt … Tagelang bin ich in Paris durch die Bistros gezogen … Am Ende bin ich in der Rue du Roi de Sicile gelandet, sturzbetrunken und sterbenskrank!«